Es ist bereits über 16 Jahre her, als ich von Pater Heribert Kloos vom Verein Arco Iris Do Armor – AIDA aus München eine Anfrage erhielt, ob ich die Planung eines von mir entworfenen Gebäudes dem Verein zur Verfügung stellen könnte für den Bau von Kinderhäusern eines Straßenkinderprojektes in der Nähe von Rio. Seither bin ich diesem Projekt eng verbunden. Ich möchte einmal die Gelegenheit nutzen im Rahmen eines kritischen Rückblicks darzustellen, welch unterschiedliche Verläufe die Planung und die Umsetzung eines Hilfsprojektes nehmen können.
Der Verein AIDA wurde 1994 mit dem Ziel gegründet, benachteiligten Menschen insbesondere Kindern in Brasilien nachhaltig zu helfen. Durch glückliche Umstände gelangte der in 1998 in den Besitz eines großen Grundstücks etwa 50 km von Rio am Rande einer ländlichen Favela.  Schnell wurde die Idee geboren, hier Kindern, die auf der Straße oder in prekären Familienverhältnissen leben mussten, eine Lebensperspektive anzubieten, in familienähnlichen Strukturen aufzuwachsen mit medizinischer/psychologischer Betreuung und der Möglichkeit, eine Schul- und Berufsausbildung zu erhalten. Dazu sollte mit St. Antons Kinder- und Jugendzentrum eine offene Einrichtung mit umfangreichen Angeboten und Anschluss an die Nachbarschaft errichtet werden.
Gemeinsam mit Studenten und Hochschullehrern einer deutschen Fachhochschule wurden umfangreiche Planungen erstellt und im Plan auf dem Gelände verteilt: 1 Haus der Begegnung, 8 einfache Wohnhäuser für jeweils 10 Kinder und 2 soziale Eltern, 1 Gemeinschaftshaus, 1 Kindergarten, 1 Bildungshaus mit Bibliothek und Gesundheitsstation, Werkstätten (Schreinerei, Schlosserei, Fahrradwerkstatt, Bäckerei und Gemüseladen) und als Abschluss eine kleine St. Antonskapelle.
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Im November 1999 war es soweit. Als erstes Gebäude sollte das Haus der Begegnung im Rahmen einer 3-wöchigen Exkursion von 2 Hochschulprofessoren, 18 StudentInnen und 5 Fachkräften errichtet werden. Eine kleine Gruppe kam schon etwas früher um die Fundamente vorzubereiten. Geplant war das Gebäude als reiner Holzskelettbau in einer schon lange entwaldeten Region, in der Holz für Bauzwecke nur in kleinen Mengen verfügbar war, das aus etwa 3.000 km vom Amazonasregenwald herbei transportiert werden musste. Es kam mit etwa einer Woche Verspätung zur Baustelle und brachte damit den Zeitplan unter Druck. Zudem handelte es sich wohl um „grünes Holz“ d. h. es war frisch geschlagen und führte später zu erheblichen Trägerverformungen bis hin zur Lösung von Bauteilverbindungen. Dies konnte ich bereits bei meinem ersten Ortstermin 2001 deutlich feststellen. Es gab auch keine geeigneten Fachleute für den Holzbau vor Ort. Man war auf sich selbst angewiesen. Ebenso fehlte es an geeigneten Verbindungsblechen. Das Gerippe des Rohbaus konnte etwa zur Hälfte errichtet werden, dann war die Zeit rum und die Professoren flogen mit den Studenten wieder zurück. Ohne Dachkonstruktion, ohne Eindeckung wurden die Holzkonstruktion und der Ausbau des Hauses der Begegnung vom Verein AIDA mit eigenem Personal und in eigener Regie zu Ende geführt. In der Folge brach die Zusammenarbeit sehr abrupt auseinander.
Trotzdem konnte der Bau des ersten von 4 Kinderhäusern bereits 2001 begonnen und fertig gestellt werden. Diesmal wurde ein reiner Ziegelbau errichtet. Weil es schnell gehen musste nach deutschen Standards. Die folgenden 3 Kinderhäuser wurden bis 2005 gemeinsam mit einem brasilianischen Architekten in der in Brasilien (und auch weltweit) üblichen einfachen Stahlbeton-Skelettbauweise mit Leichtziegelausfachung errichtet. Nach dem plötzlichen Tod des Vereinsgründers Pater Heribert Kloos Anfang September 2006 stand der Verein AIDA vor die schwierigen Aufgabe für die Weiterführung des Projektes zu lösen, da der Vereinsgründer mit in seiner ganzen Person nicht nur der Kopf sondern der Motor des Projektes war. Allerdings hatte er immer sehr viel Rückhalt und tatkräftige Unterstützer im Verein gehabt, so dass die Aufgaben auf mehrere Schultern gut verteilt werden konnten.
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Nach dem Sturz der Militärdiktatur und der Regierungsübernahme durch einen Präsidenten, der aus der Arbeiter- und Landlosenbewegung kam, änderte sich die Situation für schutzbedürftige Kinder kaum. Es wurden jedoch gesetzliche Regelungen eingeführt, die zunächst die Aufenthaltsdauer in Unterbringungseinrichtungen auf 3 Monate begrenzten unabhängig von ihrer familiären Lage. Dadurch wurde das ursprüngliche Konzept einer familienähnlichen Lebensweise mit enger Bindung der Familienmitglieder untereinander (10 Kinder und soziale Mutter mit Helferin) stark in Frage gestellt. Die Bleigefrage war ständig ungewiss. Mit dem Jugendrichter und den Jugendämtern mussten für jedes Kind immer wieder neue Konditionen ausgehandelt werden.
Die nächste Gesetzesreform kam nach der Fertigstellung des 4. Kinderhauses etwa 2005. Änderungen im Arbeitsrecht führten nun dazu, dass das Personal nicht mehr auf dem Gelände übernachten durfte. In der Folge wurde ein Schichtbetrieb eingeführt. Die wichtigen familiären Bindungen zwischen den Betreuerinnen und den Kindern konnten damit nicht mehr in der vorgesehenen Weise aufrecht erhalten werden. Trotzdem wurde der Betrieb mit etwa 40 Kindern weitergeführt, weil der Bedarf enorm war und das Jugendamt immer wieder Kinder an die einzige Einrichtung zur Aufnahme von schutzbedürftigen Kindern im Bezirk Tangua verwies. Es wurden aber keine weiteren Kinderhäuser mehr gebaut, weil die Zukunftsperspektiven zu unsicher waren. Auch der bereits fertig geplante Kindergarten für die Betreuung von Kindern, deren Eltern tagsüber zur Arbeit gehen und die Kinder allein lassen müssen, wurde aufgegeben.
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Obwohl Brasilien als Schwellenland in den letzten Jahren wirtschaftliche Erfolge hatte und über nennenswerte Einnahmen verfügt, hat er sich nie an der Finanzierung von Einrichtungen zur Unterbringung von schutzbedürftigen Kindern beteiligt.  Stattdessen verlangt er bislang letzten Gesetzesreform von den Kommunen, die Kinderbetreuung mitsamt der Finanzierung selbst zu übernehmen. Das hat dazu geführt, dass St. Antons Kinder- und Jugendzentrum seit 2015 von den Jugendämtern der Nachbarkommunen keine Kinder mehr zugeführt wurden. Die dort betreuten Kinder wurden sogar abgezogen, um für die Kommunen die Unterbringungskosten so gering wie möglich zu halten. Der Betrieb von St. Antons Kinder und Jugendzentrum konnte schließlich nicht mehr weitergeführt werden.
Gemeinsam mit dem lokalen Träger, dem Sozialdienst der Franziskaner (SEFRAS), wurde von AIDA e. V. daher ein ganz neues Konzept entwickelt. Die Kinder gehen in Brasilien häufig im Schichtbetrieb in die Schule d. h. ein Teil hat vormittags Unterricht und ein anderer Teil nachmittags. Da die Eltern bzw. die häufig alleinerziehenden Mütter arbeiten gehen müssen und sich nicht um die Kinder kümmern können, wenn diese keine Schule haben, wurde ein Konzept zur ausserschulischen Betreuung und Hausaufgabenhilfe entwickelt. Ausserdem mussten die Gebäude nach der intensiven Nutzung in den vergangenen Jahren zunächst einmal grundsaniert werden. Der gegenwärtig mit 40 Kindern laufende Betrieb soll schrittweise auf 120 und bis maximal 200 Kinder erweitert werden. Bestehende Gebäude mussten daher umgebaut werden, um sie als Aufenthalts- und Spielzimmer nutzen zu können. Für den gesteigerten Essenbedarf wurde eine neue Küche eingerichtet. Nach vielen nervenaufreibenden Verzögerungen werden nun seit Juli diesen Jahres wieder Kinder im Rahmen der neu eingerichteten Tagesstätte betreut, mit Sport, Spiel und Capoeiraunterricht in einem sicheren und behüteten Umfeld. Darüber hinaus kümmert sich SEFRAS in einer Müttergruppe um Frauen, die besonderer Unterstützung bedürfen. Für diese Aufgabe sind 3 Lehrer und eine Sozialassistentin eingestellt.
Das Beispiel von St. Antons Kinder- und Jugendzentrum zeigt, welche Unwägbarkeiten und Überraschungen eintreten und zum Richtungswechsel zwingen können. Das bezieht sich auf die Projektziele ebenso wie auf die zu ihrer Umsetzung erforderlichen Baumaßnahmen. Von dem umfangreichen Bauprogramm (s. o.) wurden schließlich neben dem Haus der Begegnung noch 4 Kinderhäuser und 2009 ein Bildungs- und Verwaltungsgebäude errichtet, in dem Fortbildungskurse und kleine Veranstaltungen stattfinden. Das Beispiel zeigt auch, dass mit einem guten Team selbst schwierige, für das Projekt existenzbedrohende Situationen gemeistert werden können.
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Verfasser: Thomas Schinkel